Über Fett, Honig und
anderes
Um eine Denkform entstehen zu lassen, die
sich allmählich ausbreitet,
um schließlich umfassend zu werden, müsste man veränderliche
Bezugsebenen zusammenspielen lassen. Alle Aktivitäten von Beuys
variieren zwischen dem Sublimen und dem Lächerlichen. Diese zwei
gegensätzlichen Elemente sind in seinen Schriften und in seinen Äußerungen
gegenwärtig. Es handelt sich dabei um einen bewussten Prozess:
um ein anderes Mittel, das dazu dient, den Unterschied zwischen äußerer
Realität und <<wirklicher Realität>> hervorzuheben.
Dieses Verfahren soll vorgefasste Ideen von der Struktur und der Form
in der Kunst, Erfahrung und Gesellschaft hinterfragen. In den Zeichnungen
fließen die Bezugsebenen organisch, zwar gedanklich verbunden,
aber doch frei assoziierend wie in „ Finnegan’s Wake“ i).
Und gleichzeitig sind sie ein Abbild der Dualität der menschlichen
Existenz: Körper und Seele. Diese Dualität könnte in
einer dialogischen Beziehung, oder einem Gleichgewicht aufgelöst
werden; stattdessen entsteht aber öfter ein zerstörerischer
Konflikt, weil der Mensch immer noch unfähig ist, sich von außen
zu betrachten. Beuys stellt dies in einem Diagramm dar: Die Pflanze
hat ihre Wurzel (Seele) im Boden und ihre Sexualorgane (Blume und Frucht)
streben vertikal nach oben. Im Tier sind diese beiden Bereiche horizontal,
d.h. parallel zum Boden, angelegt. Möglicherweise lässt sich
die Antwort an der Biene veranschaulichen, wenn man ihr Vorderteil
als Sinnbild des geistigen Menschen versteht und den Hinterteil mit
dem Stachel als den irdischen Körper, während die dünne
Verbindung dazwischen ein Gleichgewicht zwischen Körper und Seele
bildet.
Körper Geist und Seele können harmonisch in einer Form als
Gefühl, Denken und Wille koexistieren. Dasselbe gilt für
sie Polarität von warm und kalt, männlich und weiblich aktiv
und passiv. Diese Zwitterhaftigkeit erscheint immer und immer wieder
als Ausdruck von Totalität. Sie existieren in der zweigeschlechtlichen
Figur oder in den Frauen, die ein aktives und ein passives Element
besitzen: eine klare Form und eine undefinierbare, ein Stein und ein
Netz. Es handelt sich um jene Dualität, die in Legende und Sage
oft mit dem Schwan in Verbindung gebracht wird: die Vereinigung eines
harten, muskulösen Halses und einem weichen, runden Körper.
Vom zwitterhaften Zustand nie weit entfernt
ist das Fließende
der merkurialen Bewegung. Quecksilber ( Mercurius) ist der Katalysator,
der den Übergang von einem Zustand in einen anderen bewerkstelligt.
Es kann auch Gegensätze vereinen, indem es feminines Kupfer
mit maskulinem Eisen verbindet. In der Astrologie und der Alchemie
kann ein merkurisches Wesen von einem Zustand in einen anderen übergehen.
Keines der Tiere aus der Beuys’schen Menagerie ist bloß erfunden,
jedes ist eine Legende, Mythos und Folklore mit dieser merkurischen
Eigenschaft ausgestattet: sowohl der Hase, der Hirsch wie der Schwan
repräsentieren Beweglichkeit und Inkarnation im ganzen eurasischen
Raum. Später übernimmt die Verwendung von Fett als Material
eine ähnliche Rolle wie die des Quecksilbers: Fett verkörpert
das Energiepotential und die Veränderung eines Zustands in einen
anderen durch Hitze. Filz ist ebenfalls nie statisch: weil dieser
Stoff aus zusammengepresstem Material (Hasenfell) hergestellt ist,
gibt es weder Längs- noch Querfäden. Aus diesem Grund wird
er zum beweglichen Isolator.
Der Übergang von einem Zustand in einen anderen und die Umwandlung
von chaotischer Energie in Bewegung und schließlich in organisierte
Form sind unsichtbare Abläufe die sich nur sehr schwer in eine
sichtbare Form übertragen lassen. Die Hand und der Verstand,
die den Bleistift führen oder das Material arrangieren, müssen
mit den Kräften, die ausgedrückt werden sollen im Einklang
stehen. Die Zeichnungen wie die environments vermitteln dieses Gefühl
des Übergangs von einem Zustand in einen anderen: das Gefühl,
dass etwas aus diesem Material entstehen müsse, ähnlich
der ständigen Verwandlung von Wind, Wasser, Wolken und Rauch
(in der Nähe des „Eurasia“- Raums in Darmstadt befindet
sich ein schweres Eisenblech, das sich alle sechs Monate um fünf
Zentimeter vorwärtsbewegt).
Dieser Eindruck wird in den frühen Zeichnungen eher bildlich
als materiell vermittelt, und das war einer der Gründe, weshalb
die Form erweitert werden musste, zuerst über die Zeichnung
als solche und dann über die feste Materie hinaus zur Bildung
von Sprache. In den Zeichnungen wird der Übergang von einem
Zustand in einen anderen oft dargestellt als ein Vorgang der Metamorphose:
des Menschen in einen Berg, der Seele in eine Biene. Eine ähnliche
Vorstellung von dieser Austauschbarkeit findet sich bei Novalis und
Goethe: wenn Gott zum Menschen würde, so könnte er als
Stein, Pflanze oder in irgendeiner Gestalt erscheinen.
Sowohl Tod als auch Entwicklung sind Übergänge von einem
Zustand in einen andern. Im Schamanismus sind beides positive Faktoren:
Die Initiation erfolgt durch die Simulation des Todes: Dadurch kommt
es zu einer engeren Verbindung mit der Materie; deren spezifische
Eigenschaften darin besteht, Energie durch Selektion, Impregnation
oder Infiltration zu übermitteln:
Fett Filz Schwefel Kupfer Eisen
Bienenwachs Blattgold Jod
Hasenblut
Honig
Text: Caroline Tisdall (Übersetzt
von Peter Ernst)
- James Joyce, “Finnegan’s Wake”,
Edition Suhrkamp, Band 521, 1989
- Beuyssnobiscum 147,
FUNDUS Verlag der Kunst, mit einem Kommentar zur Neuausgabe herausgegeben
von Harald Szeemann, ISBN 90-5705-063-3,
20 Autoren
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